• Aufgaben

    • Thema dieser Lerneinheit

      Prüfungsformate sind stark von den Aufgaben bestimmt, die zur Bearbeitung gestellt werden. Sie können einerseits geschlossen gestellt werden, andererseits aber auch offen formuliert sein. In diesem Audio-Interview wird der Schieberegler und damit verbundene Änderungen an Prüfungen vorgestellt.

    • Audio übernommen von „Aufgaben“ als Stellschraube für zeitgemäße Prüfungsformate von Agentur J&K – Jöran und Konsorten in Zusammenarbeit mit dem Institut für zeitgemäße Prüfungskultur e.V. im Auftrag des Niedersächsischen Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ Hildesheim) via Medienberatung Niedersachsen | Lizenz CC BY 4.0
    • Jöran Muuß-Merholz: Der Schieberegler ‘Aufgaben’ hat zwei Pole, die heißen ‘geschlossen’ und ‘offen’. Das wollen wir uns jetzt genauer anschauen, und zwar mit Hilfe von Patricia Drewes, sie ist Lehrerin, sie ist didaktische Leitung am Gymnasium Bethel, sie ist in der Lehramtsausbildung und in der Schulentwicklungsberatung tätig – insofern hat sie einen umfassenden Blick. Und die erste Frage lautet: Also, was ist damit gemeint, wenn da auf der einen Seite ‘offen’ und auf der anderen Seite ‘geschlossen’ steht? 

      Patricia Drewes: Bei uns im Schieberegler stehen links ‘geschlossene’, rechts ‘offene Aufgaben’ – und Aufgaben unterscheidet man so gemeinhin nach dem Grad der Offenheit. Geschlossene Aufgaben sind Aufgaben, die auch alle kennen: Das Extrem sind Multiple Choice Aufgaben, da werden Einzelheiten abgefragt, Begriffe, Aussagen, Definitionen, und es ist für Lehrkräfte in der Regel relativ einfach zu beurteilen: richtig oder falsch? Weil man die Antworten schon kennt. Offen sind eher Aufgaben, bei denen der Lösungsweg nicht von vornherein vorgezeichnet ist und auch die Eindeutigkeit bei der Lösung jetzt nicht unbedingt vorgegeben ist – und da ist es eher wichtig zu dokumentieren für die Schülerinnen und Schüler, dass sie ein Verständnis von Zusammenhängen und Prozessen haben. Und das ist ja auch schon so deutlich geworden in unserem Intro: Links ist eher konventionell, rechts ist eher für uns zeitgemäß geprüft. Und meine These ist, dass selbst die Klassenarbeiten und Klausuren, von denen wir oft meinen, dass sie offen sind, eigentlich für mich eher geschlossene Formate darstellen und dies vor dem Hintergrund, dass sie nicht besonders viel Spielraum lassen für individuelle Lösungswege. 

      Um das jetzt mal so an einem Beispiel zu verdeutlichen: Also, ich unterrichte Deutsch und Geschichte, und da ist es häufig, gerade im Fach Deutsch, so vorkonfektionierte Analyseaufsätze. Schülerinnen und Schüler kaufen sich die Lehrerbegleithefte oder die Analysehilfen und dann kommt eine Klassenarbeit oder Klausur von diesem Format und man reproduziert eigentlich das, was man gelesen hat, und letztendlich: man ist eigentlich wieder bei diesem Punkt, dass man doch eine sehr geschlossene Aufgabenlösung produziert. Und das ist etwas, wovon wir weg wollen von diesen Prüfungsaufgaben von der Stange, die, und das kommt noch dazu, auch die Kultur der Digitalität komplett ausklammern. 

      Jöran Muuß-Merholz: Bei dem Beispiel dachte ich jetzt gerade, dass tatsächlich ja auch manchmal die Aufgaben sozusagen einen großen Konsens haben, dass sie nicht so gemeint sind, wie es da steht. Also, zum Beispiel steht da: ‘Wie interpretierst du dieses und jenes’, dann ist damit eigentlich gemeint: ‘Wie interpretieren andere dieses und jenes?’ und ‘Kannst du das wiedergeben?’. 

      Patricia Drewes: Genau, das ist letztendlich oft das, dass da immer noch diese Idee existiert, dass es eine falsche oder eine richtige Interpretation geben könnte – und die richtige Interpretation ist natürlich die, die literaturwissenschaftlich fundiert ist, und da bleibt relativ wenig Spielraum, eigentlich, für eigenes Erfahren von literarischem Lebenswelt. 

      Jöran Muuß-Merholz: Magst du das am Beispiel nochmal ausmalen? 

      Patricia Drewes: Ja, ich könnte jetzt … so ein Beispiel: Wir haben jetzt im letzten Jahr Lessings ‘Nathan’ gelesen. Und man könnte es jetzt so machen: Lessings ‘Nathan’, da macht man jetzt natürlich klassischerweise eine Dramenanalyse, und da gibt es ein Analyseraster, nach dem sich Schülerinnen und Schüler zu richten haben, weil das ein Raster ist, was auch im Abitur zugrunde liegt. Und was dann aber auch dabei herauskommt, ist ein mechanisches Abarbeiten von Rasterpunkten unter Zuhilfenahme von Interpretationshilfen, und da entstehen dann ja dann auch sehr vorkonfektionierte Aufsätze. Wenn ich jetzt aber sage: Ich möchte das gar nicht, ich möchte jetzt ein alternatives Prüfungsformat! Da könnte ich ja auch sagen: Wir gehen individueller vor, die Schülerinnen und Schüler haben Wahlmöglichkeiten, und die bestehen jetzt nicht darin, diese Analyse zu produzieren, sondern wir sagen einfach mal: Dieses Drama, was hat uns das heute eigentlich zu sagen? Stellt euch mal vor, ihr müsstet irgendwie für so ein Drama Marketing machen, und überlegt mal, wie könnte das im 21 Jahrhundert auf die Bühne gebracht werden, wie könnte ein Trailer aussehen für eine serielle Verfilmung? Das bietet sich ja auch an, weil am Ende liegen sich ja alle in den Armen, also, das ist ein total kitschiges Happy End, irgendwo – da könnte man auch eine Serie draus machen! Oder ihr produziert mal in 3D eine Art Bühnenbild: Wie stellt ihr euch das vor, wie stehen die Menschen zueinander in einer bestimmten Szene und etwas ähnliches? Und da kann man halt nicht vorkonfektioniert vorgehen, man kann auch nicht mit einer Analysehilfe arbeiten. Und da war häufig die Rückmeldung von Schülerinnen und Schülern: Mensch, da musste ich zum ersten Mal das Werk richtig selbst lesen, um es zu verstehen und um das dann auch nochmal produktiv zu verarbeiten! 

      Jöran Muuß-Merholz: Inwieweit ist das Thema eine Frage von zeitgemäßer Bildung, generell? 

      Patricia Drewes: Also, für mich ist es eine ganz große Frage zeitgemäßer Bildung, weil ich denke, dass wir nicht davon abstrahieren können, dass sich Jugendliche auch seit Kindesbeinen in einer Kultur der Digitalität bewegen, vor allen Dingen jenseits von Schule. Und deswegen halte ich es mittlerweile auch fast für eine kulturelle Barbarei, Digitalität nicht mitzudenken in Lernprozessen und im Prüfungsprozess. Und zum anderen denke ich, dass diese Aufgabenformate, wie ich sie gerade oben skizziert habe, überhaupt nicht auf so ein zukunftsoffenes Dasein vorbereiten, weil Menschen, das wissen wir selbst als Erwachsene, müssen eigentlich im späteren Leben bestimmte Anforderungssituationen bewältigen. Wir müssen Wissensnetzwerke bilden. Und: Wir sind nie wieder in der Situation, in der wir solche Aufgaben lösen, wie wir sie gerade in der Schule lösen, und wir müssen auch nicht mehr bestimmte Fakten auswendig lernen oder irgendwo krampfhaft Stilmittel suchen. Also, deklaratives Wissen bleibt sicherlich wichtig, aber es wird nicht mehr punktuell abgefragt. Stattdessen arbeiten wir in sozialen Kontexten, wir arbeiten kommunikativ, kollaborativ und komplett im digitalen Raum. Deswegen haben Aufgabenformate für mich sehr viel mit zeitgemäßer Bildung zu tun.

      Jöran Muuß-Merholz: Ich schaue nochmal auf dieses Reglersystem, und das sind ja Regler, keine Schalter.  Das heißt, ich kann auch nur ein Stück weit in die gleiche Richtung ‘offene Aufgaben’ schieben. Wie mache ich das? Also, wie kann ich anfangen?

      Patricia Drewes: Man kann unterschiedlich anfangen. Also, zum einen ist es in ganz vielen Bundesländern mittlerweile möglich zu sagen: Ich ersetze Klassenarbeiten durch alternative Formate, mindestens eine im Jahr ist immer und in jedem Fach möglich. Und wenn ich gerade mal auf die Sekundarstufe II gucke, sind für mich Open Media Klausuren ein ganz schönes Beispiel dafür, dass man sagt: Ich bleibe noch in meinem Standardformat von den Aufgabentypen her, aber ich lasse beispielsweise Hilfsmittel zu, ich stelle auch das Internet als Ganzes zur Verfügung. Schülerinnen und Schüler haben eigentlich denselben Wissensbestand, und aus diesen Wissensbeständen produzieren sie eigenständige Lernleistungen, und da sind wir dann weg von der Reproduktion und hin zu Reorganisation und Transfer von Wissen.

      Jöran Muuß-Merholz: Jetzt kurz das Bild beiseite, das vielleicht viele Leute das voll gut finden und damit klar kommen. Welche Schwierigkeiten gibt es, welche Einwände kommen typischerweise, wenn man sowas macht? 

      Patricia Drewes: Die Einwände, die ich häufig höre von Kolleginnen und Kollegen, sind: Jaja, das ist ja schön bei starken Schülerinnen und Schülern, aber schwache Schüler sind darauf angewiesen, dass man mit geschlossenen Aufgabenformaten arbeitet, die müssen da nur ‘ja’ oder ‘nein’ ankreuzen, so ist das wesentlich einfacher. Aber ich glaube, das ist ein völlig falscher Zugang, weil ich zum einen denke: Wir gucken ja auf Menschen im Wachstum, und im Wachstum, also nicht im physischen sondern im geistigen Wachstum. Diese Wachstumsperspektive haben wir ja auch vor Augen, wir wollen, dass sich Menschen entwickeln und dass sich alle Menschen entwickeln. Und wenn die immer nur in einem Korsett von ‘falsch’ und ‘richtig’ denken, das sind für mich keine Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Wenn wir jetzt sagen: Es gibt Schülerinnen und Schüler, die brauchen möglicherweise mehr Hilfe, die brauchen ein größeres Scaffolding, die brauchen vielleicht mehr Geländer, dann kann man ihn trotzdem mit offenen Aufgabenformaten einen wesentlich größeren Gefallen tun. Also, die Idee, die dahinter steht, ist ja auch, dass wir in der Schule anfangen, Ungleiches ungleich zu behandeln und nicht wie mit der Gießkanne dieselben Aufgaben über alle Menschen auszukippen.

      Jöran Muuß-Merholz: In welchem Verhältnis steht jetzt der Regler ‘Aufgaben’ zu den anderen Reglern? 

      Patricia Drewes: Wenn ich jetzt überlege, würde ich sagen: Der Regler ‘Aufgaben’ steht für mich in engem oder sehr dichtem Verhältnis mit ‘Material’ und mit den ‘Hilfsmitteln’, mit denen Aufgaben bearbeitet werden sollen. Also, ich geh jetzt mal zurück zu einem Beispiel: ich fand es sehr spannend, ich bin letztens in eine Klasse gekommen und da ging es um das Thema ‘Desinformation im Netz’, und da sollten Schüler argumentieren mit Schulbuchartikeln aus dem Jahr 2009. Und ich fand das so völlig skurril, wir leben im Jahr 2021. Und da denke ich, wenn man jetzt Aufgaben gibt und zeitgemäße Aufgaben, die sich an der Lebenswelt der Schüler orientieren, dann muss man auch ins Netz gehen, also muss man da eintauchen und dann muss man aktuelle Beispiele für Fake News suchen. Und da ist es halt nicht damit getan, dass man mit abgestandenem Material arbeitet. 

      Und ansonsten glaube ich noch, dass zu den ‘Aufgaben’, ‘Raum’ und ‘Zeit’ gehört, also, wenn man offene Aufgabenstellungen nutzt, bedingt das auch zeitlich begrenztes Arbeiten. Es hat so ein bisschen auch mit geistiger Freiheit zu tun, freierem Denken. 

      Jöran Muuß-Merholz: Gibt es noch etwas, was man zu diesem Thema sagen sollte? 

      Patricia Drewes: Also, ich meine, dass Aufgaben ein Kernelement zeitgemäßer Unterrichtskultur sind. Wenn man sagt: So, gute Lernaufgaben sind eigentlich sowas wie ein Schlüssel, die schließen einen Unterrichtsgegenstand für Schülerinnen und Schüler auf, sind so ein Scharnier, und die ermöglichen eigentlich in der Schule eine Auseinandersetzung mit der Welt und gute Leistungsaufgaben sind für mich Aufgaben, die es ermöglichen, aus Schülern, also, die es ermöglichen, dass Schüler zeigen können, was so jenseits von Auswendiglernen eigentlich in ihnen steckt. Und ich glaube, dass in Schule einfach viele, die mit Lehren und Lernen zu tun haben, dieses Potenzial von Aufgaben total vernachlässigen, und da kommt es oft zum zum stumpfen Abarbeiten von Aufgaben und Arbeitsblättern, das hat man wirklich in der Pandemie immer mal wieder gemerkt, das ist eigentlich verkommen zu so einer Beschäftigung, und das müssen sie eigentlich überhaupt nicht tun, weil: sie können Welten erschließen.

      Jöran Muuß-Merholz: Ganz herzlichen Dank, Patricia Drewes.

    • Expertin und Experte

      Patricia Drewes, Didaktische Leitung am Gymnasium Bethel, daneben in der Lehramtsausbildung und Schulentwicklungsberatung tätig.


    • Der Schieberegler „Aufgaben“

      Zu den „geschlossenen“ Aufgaben gehören Abfragen von Einzelheiten, Begriffen, Aussagen und Definitionen, die sich u. a. in Multiple Choice Fragen abbilden lassen. „Offene“ Aufgaben zeichnen sich dadurch aus, dass die Lösungswege nicht eindeutig vorgezeichnet sind. Das Verständnis von Zusammenhängen und Prozessen steht hier im Vordergrund. Sie sollen dazu ermutigen, Lösungswege individueller zu denken. Offene Aufgaben sind ein Kernelement zeitgemäßer Unterrichtskultur. Sie ermöglichen in der Schule eine Auseinandersetzung mit der Welt und das Erschließen neuer Welten. 

      Lernen und Prüfen sind bei offenen Aufgaben enger verknüpft als bei geschlossenen. In der daraus resultierenden intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema entsteht mehr Wissenszugewinn. 

      Die Lernenden bewegen sich in einer Kultur der Digitalität, weshalb sich das auch in der schulischen Aufgabenstellung niederschlagen muss. Deklaratives Wissen weicht zu großen Teilen kommunikativen Aufgaben.

      Eine Möglichkeit zum Nachjustieren des Reglers ist rein rechtlich in der Regel unkompliziert bei mindestens einer Klassenarbeit pro Fach und Schuljahr möglich. Open Book Klausuren können darüber hinaus bei jeder Prüfung umgesetzt werden.

      Ein Kritikpunkt an offenen Aufgaben ist häufig, dass schwache Lernende geschlossene Aufgaben brauchen. Dies lässt außer Betracht, dass „falsch“ und „richtig“ keine aussagekräftigen Kategorien sind. Im Gegenteil: mit offenen Aufgaben kann im Sinne einer gerechten Aufgabenstellung ggf. mehr Unterstützung gewährt werden.

      Der Schieberegler steht in engem Verhältnis zu den Reglern Material, Raum und Zeit.


    • Beispiele für den Unterricht

      Dennis Gonzalez y Rodriguez nutzte für seine 6. Klasse in Mathematik eine Unterrichtseinheit zum Thema Bruchrechnung, um mit den Lernenden zu besprechen, wie eine Klassenarbeit zum Thema Bruchrechnung aufgebaut werden muss. Die Lernenden sollten anschließend eine entsprechende Klausur als Konzept entwickeln. Das Konzept der dabei so benannten „Do-it-yourself-Klassenarbeit“ wurde am Ende bewertet.

       

      Patricia Drewes nutzte für ihre 10. Klasse in Deutsch Lessings „Nathan der Weise“ und ließ sie das Werk in wahlweise einen Trivialroman, einen Trailer für eine Comicserie, Bühnenbilder oder eine Bühneninszenierung umschreiben. Dabei mussten die Lernenden auch ihre Wahl reflektieren. Das Projekt ging über 6 Wochen, die Beurteilung erfolgte aufgrund eines gemeinsam abgestimmten Beurteilungsrasters.

    • Jetzt sind Sie dran

      Nutzen Sie eine der Möglichkeiten, den Schieberegler zu verstellen:

      • Formulieren Sie einen möglichst offenen Arbeitsauftrag, weisen Sie aber darauf hin, dass die Erarbeitung desselben stark protokolliert sein muss. Bewerten Sie dann den Prozess stärker als das Ergebnis.
      • Geben Sie Formeln und Material vor. Lassen Sie die Lernenden ein Anwendungsbeispiel entwickeln und einen Lösungsansatz bzw. den Rechenweg angeben.
      • Geben Sie einen Text vor. Lassen Sie die Lernenden entscheiden, welche Rolle sie einnehmen, und geben Sie die Aufgabe, den Text aus deren Sicht umzuschreiben.
      • Lassen Sie die Lernenden eine vorgegebene oder bekannte Geschichte, beispielsweise das Ende des zuletzt im Unterricht gelesenen Buches, weiterentwickeln.